Damit die Kinder in den Kinderdörfern optimal betreut werden, schult ein internationales nph-Team aus Pädagogen und Psychologen die MitarbeiterInnen.
Markus Streit (links im Bild) bei einer Mitarbeiterschulung.
nph: Warum ist die Familie so wichtig für ein Kind?
Markus Streit: Ein Kind wird in die Abhängigkeit von seinen Eltern hineingeboren. Es kann in den ersten Jahren nicht ohne die intensive Pflege und Erziehung durch die Erwachsenen überleben. Es erlernt in der Familie die Sprache, grundlegende Fertigkeiten, gesellschaftliche Normen und soziale Kompetenzen. Dort entwickelt es seine Persönlichkeitsstrukturen, Charaktereigenschaften, Erlebensweisen und Einstellungen. So wird in der Familie das Fundament für seine weitere Entwicklung gelegt. Das Kind wächst in einem sozialen Milieu auf, in dem seine Bezugspersonen ganz individuell auf seine einzigartigen Eigenschaften, Bedürfnisse und Emotionen eingehen.
nph: In Lateinamerika hat die Familie einen anderen Stellenwert als zum Beispiel in Westeuropa. Wie äußert sich das?
Markus Streit: In den Ländern Lateinamerikas ist es schwierig, ein eigenständiges Leben ohne Zugriff auf Familienangehörige oder Verwandte zu führen. Die Familien haben untereinander einen starken Zusammenhalt und sind gleichzeitig viel stärker abhängig voneinander. In Europa kann sich ein junger Erwachsener entscheiden, ob er etwas mit seiner Familie zu tun haben möchte oder nicht. In Lateinamerika suchen die erwachsenen Kinder den Kontakt zu ihren Verwandten, die Familie ist bestimmend für ihr Leben. Deshalb hat nph Projekte entwickelt, um die Geschwisterbindung in den Kinderdörfern aufrechtzuerhalten.
nph: Was unternimmt nph im Einzelnen, um die Familienzugehörigkeit unter den Geschwistern zu stärken?
Markus Streit: In den nph-Dörfern, Honduras ausgenommen, leben die Kinder alters- und geschlechtsgetrennt. Demzufolge wohnen die Geschwister in verschiedenen Kinderhäusern und sehen sich außer beim Gottesdienst, gemeinsamen Festen und auf dem Pausenhof nicht so oft. Damit die Geschwister sich nicht aus den Augen verlieren und die Familienzugehörigkeit nicht verloren geht, wurden zielgerichtete Aktivitäten eingeführt. Meistens wird von Freiwilligen, die in der Regel ein Jahr ihr Leben mit Kindern teilen, das Projekt „Familientreffen“ übernommen. In einigen Ländern machen das auch Erzieher.
nph: Was verstehen Sie darunter?
Markus Streit: In den Kinderhäusern besteht oft nicht die Möglichkeit, gemeinsam Pizza, einen Pudding oder einen Schokoladenkuchen zu machen. Also wird das in dem Projekt gemacht. Vorab wird immer geklärt, was sie an dem Treffen zusammen machen wollen, auch wenn es nur zwei Geschwister sind. Das Projekt hat immer oberste Priorität.
Kinder ohne Geschwister haben auch dieses Projekt. Sie treffen sich in gemischten Kleingruppen von drei bis sechs Kindern gleichen Alters und kochen beziehungsweise spielen gemeinsam.
nph: Spielen die Geschwister ansonsten nicht miteinander?
Markus Streit: Jedes Kind hat viele Möglichkeiten in seiner Gruppe mit Gleichaltrigen zu spielen. Am Wochenende kommt es aber vor, zum Beispiel wenn es einen gemeinsamen Speisesaal gibt, dass sich die Geschwister sehen und in Familiengruppen gemeinsam essen. Auch die Cousinen und Cousins sitzen oft mit am Tisch. Diese Essen werden von den Erziehern und Freiwilligen begleitet.
nph: Gibt es noch weitere Familienprojekte?
Markus Streit: Der Kontakt zur Ursprungsfamilie wird stark gepflegt. Pro Jahr gibt es etwa fünf bis sechs Familientage, an denen die Familienmitglieder von außen zu Besuch kommen. Mehr als die Hälfte der Kinder erhält dann Besuch. Sind die Eltern zu arm, um die Fahrt zu bezahlen, übernimmt nph die Kosten. Kann die Familie an dem Besuchstag nicht kommen, wird ein anderer Termin gesucht. Auch in der übrigen Zeit bleiben die Kinder mit der Familie in Kontakt. Bei einer ernsthaften Erkrankung eines Familienmitgliedes begleitet ein Sozialarbeiter das Kind auch ins Krankenhaus.
nph: Am Wochenende verlassen zum Teil die Kinder die Dörfer. Wer bestimmt, welches Kind zu den Angehörigen fahren darf?
Markus Streit: Der Familienrichter bestimmt den Kontakt zur Familie. Die Kinder werden dann in regelmäßigen Abständen zu ihren Angehörigen gebracht und je nach Möglichkeit verbringen sie dort einen Tag oder auch die Nacht. In El Salvador zum Beispiel fahren Freitagnachmittag viele Kinder zusammen mit Sozialarbeiterinnen im Bus zu den Familienangehörigen. Diese bringen sie am Sonntag wieder zurück. Das wurde vom Familienrichter angeordnet.
Dürfen die Kinder lediglich ein paar Stunden zu ihren Angehörigen, fahren sie Samstagmorgen los und abends sammelt der Bus sie wieder ein. Es ist eine logistische Herausforderung, da jedes Kind die gleiche Zeit bei den Angehörigen verbringen soll, aber machbar.
nph: Kommt es auch zu Problemen bei den Familientreffen?
Markus Streit: In der Regel ordnet das Familiengericht an, dass die Kinder zu nph kommen. Grundlage solcher Anordnung sind massive Probleme im Familienleben. Die Kinder werden misshandelt, die Eltern sind drogenabhängig, die Lebensumstände so prekär, dass eine Versorgung der Kinder nicht ausreichend gewährleistet ist. Verändert sich die Lebenssituation der Familie nach einiger Zeit, zum Beispiel verlässt die Mutter den gewalttätigen Partner, kann es zu einer neuen Kontaktaufnahme mit dem Kind im Kinderdorf kommen. Diese Treffen zwischen Mutter und Kind finden in Begleitung eines Sozialarbeiters statt. Oft haben die einzelnen Familienmitglieder Probleme, miteinander zu reden. Die Begegnung zwischen Familienangehörigen, die sich viele Jahre nicht gesehen haben, ist schwierig. Die kleinen Kinder kennen nur aus Erzählungen der älteren Geschwister die Lebenssituation vor nph. Und auch eine Mutter weiß oft nicht, wie sie reagieren soll.
nph: Gibt es noch weitere unterstützende Prozesse, um ein Familiengefühl bei den Kindern zu erzeugen?
Markus Streit: Alle Geschwisterkinder haben regelmäßige Treffen mit einer Sozialarbeiterin oder einem Sozialarbeiter. Zu diesem Treffen kommen alle Geschwister, auch die, die aufgrund von Ausbildung oder Studium außerhalb des Kinderdorfes wohnen. In einer gemütlichen Atmosphäre reden sie darüber, wie es ihnen geht und was sie von der Familie wissen. Es ist sehr wichtig, die Familiengeschichte durchzusprechen. Kommen die Kinder sehr jung zu nph, können sie in der Pubertät Phantasien entwickeln, dass ihre verstorbene Mutter sie abholen kommt. Es ist dann notwendig, sie mit der Realität zu konfrontieren und den Trauerprozess zu begleiten.
Alle diese Programme dienen dazu, den Geschwisterzusammenhalt zu stärken. Denn wenn die Kinder nph verlassen, ist diese Verbindung lebenswichtig für sie.
Sozialarbeiter von nph besuchen die Kinder in ihren Familien und reden über ihre Situation.
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